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Samstag, 1. April 2017

Wenn alle Sicherungen durchbrennen

Wieder einmal hatte ich Sitzwache auf der Säuglingsstation.
Ich lernte eine ganze Menge bei diesen Sitzwachen und konnte mich zwischendurch auf diverse Prüfungen vorbereiten.
Und, so nebenbei verdiente ich mir etwas Geld.

Zu dritt, allesamt Doktoranden der Kinderklinik, bemühten wir uns um die anfallenden Sitzwachen. Da wir fast täglich in der Klinik zu tun hatten, waren wir leicht erreichbar. Die Nachtschwestern und die Kinderärzte kannten uns, wir mussten nicht immer neu eingewiesen werden.
Mit anderen Worten, wir waren für diese Aufgaben gern gesehene Mitarbeiter.

Vor mir im Kinderbettchen lag das kleine Bündel Mensch, angeschlossen an diverse Schläuche. Immer wieder musste das Büblein über ein Tracheostoma, das ist ein Luftröhrenschnitt, gespült und abgesaugt werden, damit seine kleine Lunge nicht voller Schleim lief.

Oft schüttelten Hustenattacken den kleinen Racker, danach schlief er wieder für wenige Minuten. Wenn er aufwachte und die Lunge einigermaßen frei war, konnte er ganz ruhig atmen. Dann passierte es sogar, dass ein Lächeln über das blasse Gesichtchen huschte.

Uns wurde von erfahrenen Kinderschwestern immer und immer wieder eingebläut, keine persönliche Beziehung zu den kleinen Patienten aufzubauen. Besonders bei schwer erkrankten Kindern könne das unsere Psyche stark belasten.

 Wir hörten von jungen Krankenschwestern, die sich die Schicksale ihrer kleinen Patienten so zu Herzen nahmen, dass sie nicht weiter im Beruf arbeiten konnten. Sie zerbrachen an ihrem Mitgefühl.

Wer nicht mehr rational in so einer Situation arbeiten kann, der kann für einen Patienten zur Gefahr werden. Wer seinen Emotionen freien Lauf lässt, ist an einem Krankenbett fehl am Platz!

Das sind sehr harte Worte, aber aus meiner heutigen Erfahrung absolut zutreffend. Ganz besonders gilt dies bei Kindern.

Ich war schon die dritte Nacht an Manuels Bettchen. Von Tag zu Tag ging es dem Kind schlechter. All die Möglichkeiten einer hochmodernen Kinderklinik konnten seinen Zustand nicht stabilisieren.
Die Nachtschwester warnte mich bei Dienstantritt schon vor.


Gerade hatte ich die Lunge über das Tracheostoma abgesaugt und dem Büblein eine neue Windel verpasst, als ein Zittern durch das winzige Bündel Mensch ging. Mit Ärmchen und Beinchen fuchtelte und strampelte es ins Leere, durchgeschüttelt von Hustenstößen.
Die Bewegungen wurden langsamer, das Atmen flacher, ein letztes Mal schlug mein kleiner Patient die Augen auf, dann zeigte das EKG eine Nulllinie.

Der diensthabende Oberarzt stand neben mir.
Jedes gesprochene Wort war jetzt fehl am Platz.

Betretenes Schweigen. Die Nachtschwester schob das Kinderbettchen mit dem leblosen Körper aus dem Zimmer.


Der Oberarzt nahm sich Manuels Krankenakte und malte ein Kreuz mit seinem Kugelschreiber auf den Überwachungsbogen, dahinter schrieb er den Todeszeitpunkt.

Über dem Eintrag sah ich das Geburtsdatum.
Manuel war am gleichen Tag wie mein Sohn geboren.
Knapp sieben Monate waren beide alt.

Nun brannten bei mir alle Sicherungen durch!
Überstürzt lief ich raus in den Klinikhof.
Ich musste sofort nach Hause zu meinem Sohn!
Sofort!

Über fünf Stunden später und 450 Kilometer durch die Novembernacht hielt ich endlich, unendlich glücklich meinen Sohn in den Armen.


Ein Walzer am Morgen

Aus dem Kofferradio ertönte der Donauwalzer. Ich schnappte mir Schwester Ortrudis, dann schwebten wir im Walzertakt über den blitzeblank gewienerten Fußboden der Kinderambulanz.

Was war da los, fragten sich unsere ersten kleinen Patienten mitsamt ihren Müttern, Omas oder Papas?

Es war Halbacht und ich kam wie so oft um diese Zeit in die Kindersprechstunde, um mitzuhelfen.

Ich war während meiner Münchner Zeit viel in der Haunerschen Kinderklinik der Universität unterwegs, da ich dort meine Doktorarbeit schrieb.

Schwester Ortrudis sah, wie ich meine Badetasche mitsamt Kofferradio in irgendeiner Ecke deponierte.
Ich wollte nach getaner Arbeit zum Baden.

Alle Ordensschwestern sind neugierig. Ortrudis machte da keine Ausnahme.
Viel später erlebte ich noch viele Ordensfrauen, sie waren allesamt, ohne Ausnahme, neugierig.

Ortrudis schnappte sich das Radio und meinte, sie hätte auch so ein Ähnliches.
Dann drückte sie auf eine Taste und der Walzer ertönte.

Wir tanzten den Flur rauf und runter. Mal linksherum, mal rechtsherum. Ihr helles Lachen war ansteckend.
Als der Rundfunksprecher von Bayern 1 die Wetteraussichten verlas, hing Schwester Ortrudis an meinem Arm und lachte immer noch.

Sie war die gute Seele der Kinderambulanz. Eine wunderbare Ordensfrau, die all ihre kleinen Patienten liebte.
Wir verstanden uns prächtig.
Sie tätschelte meine Wange und meinte, das wäre seit langem mal wieder ein guter Einstieg in unsere Arbeit gewesen.

Dann richtete sie Ihren Schleier zurecht und rief die ersten kleinen Patienten in die verschiedenen Untersuchungszimmer. Viele kannte sie ohne Karteikarte mit Namen.

Mit einem 7 jährigen Mädchen musste ich nochmal Walzer tanzen. Sie stand die ganze Zeit auf dem Flur und klatschte im Takt, als ich mit Ortrudis die Runden drehte.

Dann kam Schwester Ortrudis mit den Röhrchen zur Blutentnahme. Sie setzte das Kind auf Ihren Schoß und desinfizierte die Ellenbeuge.
»Das hat nur ein ganz kleines Bisschen weh getan!«, sagte meine kleine Tanzpartnerin zu mir.
Ich war mächtig stolz auf Ihr Lob.

»Schau mal!«, dabei riss sie sich die Perücke herunter und streichelte über ihr nicht mehr ganz so kahles Köpfchen.
»Die kommen wieder!«, sagte sie stolz.
Dann setzte sie die Perücke wieder auf und meinte: »Die behalte ich trotzdem noch!«

Ich versprach Ihr, in einem Monat bei der nächsten Blutentnahme genau so behutsam zu sein.

Es kam nicht mehr dazu.
Die Leukämie war nicht mehr zu beherrschen.