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Samstag, 1. April 2017

Ein Walzer am Morgen

Aus dem Kofferradio ertönte der Donauwalzer. Ich schnappte mir Schwester Ortrudis, dann schwebten wir im Walzertakt über den blitzeblank gewienerten Fußboden der Kinderambulanz.

Was war da los, fragten sich unsere ersten kleinen Patienten mitsamt ihren Müttern, Omas oder Papas?

Es war Halbacht und ich kam wie so oft um diese Zeit in die Kindersprechstunde, um mitzuhelfen.

Ich war während meiner Münchner Zeit viel in der Haunerschen Kinderklinik der Universität unterwegs, da ich dort meine Doktorarbeit schrieb.

Schwester Ortrudis sah, wie ich meine Badetasche mitsamt Kofferradio in irgendeiner Ecke deponierte.
Ich wollte nach getaner Arbeit zum Baden.

Alle Ordensschwestern sind neugierig. Ortrudis machte da keine Ausnahme.
Viel später erlebte ich noch viele Ordensfrauen, sie waren allesamt, ohne Ausnahme, neugierig.

Ortrudis schnappte sich das Radio und meinte, sie hätte auch so ein Ähnliches.
Dann drückte sie auf eine Taste und der Walzer ertönte.

Wir tanzten den Flur rauf und runter. Mal linksherum, mal rechtsherum. Ihr helles Lachen war ansteckend.
Als der Rundfunksprecher von Bayern 1 die Wetteraussichten verlas, hing Schwester Ortrudis an meinem Arm und lachte immer noch.

Sie war die gute Seele der Kinderambulanz. Eine wunderbare Ordensfrau, die all ihre kleinen Patienten liebte.
Wir verstanden uns prächtig.
Sie tätschelte meine Wange und meinte, das wäre seit langem mal wieder ein guter Einstieg in unsere Arbeit gewesen.

Dann richtete sie Ihren Schleier zurecht und rief die ersten kleinen Patienten in die verschiedenen Untersuchungszimmer. Viele kannte sie ohne Karteikarte mit Namen.

Mit einem 7 jährigen Mädchen musste ich nochmal Walzer tanzen. Sie stand die ganze Zeit auf dem Flur und klatschte im Takt, als ich mit Ortrudis die Runden drehte.

Dann kam Schwester Ortrudis mit den Röhrchen zur Blutentnahme. Sie setzte das Kind auf Ihren Schoß und desinfizierte die Ellenbeuge.
»Das hat nur ein ganz kleines Bisschen weh getan!«, sagte meine kleine Tanzpartnerin zu mir.
Ich war mächtig stolz auf Ihr Lob.

»Schau mal!«, dabei riss sie sich die Perücke herunter und streichelte über ihr nicht mehr ganz so kahles Köpfchen.
»Die kommen wieder!«, sagte sie stolz.
Dann setzte sie die Perücke wieder auf und meinte: »Die behalte ich trotzdem noch!«

Ich versprach Ihr, in einem Monat bei der nächsten Blutentnahme genau so behutsam zu sein.

Es kam nicht mehr dazu.
Die Leukämie war nicht mehr zu beherrschen.

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